Eine fremde Welt

Der kleine Fuchs saß unter einem Busch und betrachtete neugierig die langen dünnen Zweige, die fast bis auf den Boden hingen. An den Zweigen befanden sich hellgrüne, sternenförmige Blätter, die so dünn waren, dass man beinahe hindurchschauen konnte. Der kleine Fuchs hatte bisher noch nie solche Blätter gesehen, aber sie gefielen ihm. Auf einem Blatt, direkt vor seiner Schnauze, krabbelte ein gelber Käfer mit lustigen blauen und roten Punkten. Der kleine Fuchs pustete ein bisschen und sofort rollte sich der Käfer zu einer festen Kugel zusammen. Der Fuchs staunte über die Verwandlung, aber es dauerte nicht lange, bis der Käfer vorsichtig wieder seine Fühler rausstreckte. Kurz darauf kamen auch die Beinchen zum Vorschein und der Käfer krabbelte weiter, als sei nichts geschehen.
„Strubbelrute, was machst du denn da?“ fragte Marvin, der Wald- und Wiesenoktopus. Strubbelrute – der kleine Fuchs musste sich an seinen neuen Namen erst noch gewöhnen, aber er war Marvin sehr dankbar, dass der sich so einen schönen Namen für ihn ausgedacht hatte.
„Ich schaue mir die Blätter und die Tiere an“, antwortete Strubbelrute. „Bäh, das ist doch langweilig“, sagte Marvin und rückte sich das Stückchen Wiese zurecht, das er immer auf dem Kopf trug. Zur Tarnung, wie er behauptete. „Willst du mal etwas wirklich Interessantes sehen?“ – „Was denn?“ fragte der kleine Fuchs aufgeregt und spürte wieder das Kribbeln in der Schnauze, das über seinen Rücken lief. Und dann richtete sich sein Fuchsschwanz auf und das weiße Fell an der Schwanzspitze begann ganz leicht zu zittern. „Komm mal mit“, antwortete Marvin geheimnisvoll, „ich werde es dir zeigen!“

 

„Wie weit ist es denn noch?“ fragte Strubbelrute genervt. Er und Marvin waren schon seit einer gefühlten Ewigkeit unterwegs, ohne dabei jedoch wirklich weit vorangekommen zu sein. Trotz ihrer 8 Arme sind Wald- und Wiesenoktopusse wirklich sehr, sehr langsam.
Einige Zeit später erreichten die beiden einen hochgewachsenen Baum, der etwas abseits auf einer kleinen Erhebung stand: „Kletter mal hoch!“ ordnete Marvin an. Strubbelrute war noch nie auf einen so hohen Baum geklettert, aber trotzdem gelang es ihm, bis in die Spitze hinauf zu steigen. Neugierig blickte er sich um, aber außer einem dichten Wald und einem Hügel direkt gegenüber gab es hier nichts Interessantes zu entdecken.
„Ich sehe nichts“, brüllte Strubbelrute nach unten. „Warte mal ab“, rief Marvin zurück und stieß kurz darauf einen hohen, eigentümlichen Pfiff aus. Sofort begann die Erde zu beben, die Krone des Baumes zitterte und nur mit Mühe konnte sich der kleine Fuchs an dem dünnen Ast festklammern, auf dem er stand. Und dann sah Strubbelrute, wie der Hügel gegenüber plötzlich in den Himmel wuchs. Darunter kamen 8 gewaltige Arme zum Vorschein, die so dick waren, dass auf ihnen Bäume und Sträucher wachsen konnten. „Das ist Melvin, mein Bruder“, erklärte Marvin lachend.


„Und was habe ich gesagt? Das ist doch viiiel interessanter, als ein gelber Käfer, oder?“ fragte der Wald- und Wiesenoktopus vergnügt, als Strubbelrute mit zittrigen Beinen wieder vor ihm auf dem Boden stand. „Dein Bruder... ist riesig“, presste der kleine Fuchs mühsam hervor. „Melvin? Nee, der ist sogar recht klein für sein Alter. Er ist ja nur ein Hügel, andere sind in dem Alter schon so groß, wie kleine Berge.“ - „Aber du bist doch viel, viel kleiner als er“, wunderte sich Strubbelrute. „Ich bin ja auch viel, viel jünger“, rief Marvin beleidigt, „Und außerdem: wie soll ich denn wachsen, wenn mir ständig jemand auf den Kopf tritt?“ - „Jetzt geht das wieder los“, sagte der kleine Fuchs genervt, „Ich habe mich doch schon bei dir entschuldigt. Warum müsst ihr euch überhaupt tarnen? So ist das ja gar kein Wunder, wenn man euch nicht sehen kann.“ - „Vielleicht WOLLEN wir ja gar nicht gesehen werden?“ - „Und warum nicht?“ Marvin rückte das Stückchen Wiese auf seinem Kopf, das schon wieder ein wenig nach hinten gerutscht war, gerade. „Naja, wir Wald- und Wiesenoktopusse werden sehr, sehr groß. Für Melvin bist du nicht mehr als eine winzig kleine Ameise, er kann dich kaum noch hören oder sehen. Und außerdem werden wir auch sehr, sehr alt, viel älter als jedes Tier, jede Pflanze und jeder Baum. Irgendwann wollen wir einfach unsere Ruhe haben. Und deshalb tarnen wir uns, verstehst du?“ Strubbelrute nickte ganz langsam.

 

„Los komm mit!“, rief Marvin während Strubbelrute noch immer über den gewaltigen Wald- und Wiesenoktopus staunte, der sich langsam wieder auf den Boden gleiten ließ. „Und wohin?“ wollte der kleine Fuchs wissen, doch Marvin murmelte nur etwas von „Wirst du schon sehen“ und war im nächsten Moment zwischen zwei hohen, schlanken Bäumen verschwunden. Nur widerwillig trottete Strubbelrute seinem neuen Freund hinterher. Langsam wurde er müde und er sehnte sich in seine gemütliche, kuschlige Höhle zurück.
Die beiden waren noch nicht weit gelaufen, als links und rechts neben ihnen plötzlich dünne Spinnwebenseile auf den Boden fielen. Im nächsten Moment sausten winzige Gestalten an den Seilen nach unten, rannten über den Boden und begannen wahllos Gräser und Blumen aus dem Boden zu reißen. „Hey lasst den Unsinn!“ rief Marvin wütend, als er bemerkte, dass zwei der Gestalten auch auf der Wiese auf seinem Kopf gelandet waren und dort versuchten, eine besonders schöne Blume auszureißen. „Geht nicht“, keuchte eine der Gestalten, „müssen Platz schaffen.“ Einer von Mavins Armen huschte über den Kopf und wischte die zwei Gestalten unsanft zur Seite. „Wofür müsst ihr Platz schaffen?“ mischte sich Strubbelrute neugierig ein, „Und wer seid ihr überhaupt?“ - „Blumenfeen“, lautetet die kurze Antwort, „Keine Zeit zum Reden. Das Wolkenschaf wird bald hier sein.“ Und schon waren die beiden weiter gehuscht.


Kopfschüttelnd blickte Fuchs Strubbelrute den winzigen Geschöpfen hinterher. „Die Blumenfeen sind ein wenig verrückt“, erklärte Marvin verständnisvoll. „Stimmt gar nicht“, piepste es aus der anderen Richtung und im nächsten Moment hetzte eine weitere Blumenfee an ihnen vorbei. Doch diesmal war Marvin schneller. Einer seiner Arme schnellte nach vorn, wickelte sich um die Blumenfee und hob sie sanft nach oben. „Lass mich los!“ schimpfte sie, „ich muss weiter! Das Wolkenschaf kommt.“ - „Was ist denn so schlimm am Wolkenschaf?“ wollte Strubbelrute jetzt endlich wissen. Die Blumenfee runzelte ungläubig die Stirn: „Das weißt du nicht?“ - „Er ist noch neu hier“, sagte Marvin entschuldigend. Die Blumenfee nickte, dann seufzte sie: „Das Wolkenschaf bringt den Regen. Aber heute ist es traurig, da bringt es sehr, sehr viel Regen. Wir Blumenfeen müssen deshalb einige Pflanzen ausreißen, damit das Wasser schnell in den Boden laufen kann. Sonst sieht es hier bald aus wie auf dem Meer.“ - „Warum ist das Wolkenschaf denn traurig?“ fragte Strubbelrute noch, doch die Blumenfee hatte sich schon losgerissen und rannte eilig ihren Freunden hinterher.

 

„Blöde Blumenfeen“, maulte Marvin und fuhr sich vorsichtig mit zwei seiner Arme über den Kopf, „hätten mir beinahe meine schönste Blume ausgerissen.“ – „Aber wenn doch das Wolkenschaf kommt“, versuchte Strubbelrute seinen neuen Freund zu beruhigen. „Mir doch egal“, brummte der Wald- und Wiesenoktopus und verschränkte 4 seiner Arme trotzig vor der Brust. „Weißt du warum das Wolkenschaf traurig ist?“ fragte der kleine Fuchs. „Mir auch egal“, antwortete Marvin verärgert, „aber warum fragst du es nicht einfach selbst? Dahinten kommt es schon.“ Und tatsächlich, am Horizont tauchte plötzlich eine gewaltige Wolke auf, die sich rasch näherte. Strubbelrute sah die dicken, langen Beine, die fast bis auf den Boden reichen, er erkannte die leuchtenden Augen und die kräftigen, gebogenen Hörner, die das Wolkenschaf vor sich herschob. Das Wolkenschaf zitterte und bei jedem Zittern fielen unzählige Wassertropfen aus dem Fell, die klatschend auf die Erde prallten.
Als das Schaf die beiden Freunde beinahe erreicht hatte, rief Strubbelrute so laut er konnte: „Halt!“ Das Wolkenschaf blickte sich überrascht um. „Ich bin hier unten“, brüllte der kleine Fuchs und winkte mit der Pfote.
„Puhihi“, heulte das Schaf. „Warum bist du denn so traurig?“ fragte Strubbelrute mitfühlend. „Puhihi“, machte das Schaf erneut und ließ dicke schwere Regentropfen auf den Boden fallen. „Traurig? Ich bin nicht traurig. Puhihi. Ich zittere, weil ich lachen muss.“ – „Weil du lachen musst?“ wunderte sich Strubbelrute jetzt und zog seine Nasenspitze überrascht nach oben. „Ja, hihi, diese gemeinen Tropfer kitzeln mich die ganze Zeit.“
„Was sind denn Tropfer?“ wollte der kleine Fuchs fragen, als ein besonders großer Wassertropfen direkt auf seiner Schnauze landete. Zu Strubbelrutes Überraschung sprang der Tropfen auf, rannte mit dünnen Beinchen auf der Schnauze entlang und hüpfte dann, ein fröhliches „Yippie“ ausstoßend, mit einem gewaltigen Satz nach unten. Auf dem Boden angekommen schaute er sich kurz um, entdeckte eine der Stellen, an denen die Blumenfeen eine Blume ausgerissen hatten und war schon im nächsten Moment im Erdreich verschwunden. „Tropfer und Blumenfeen – beide verrückt“, sagte Marvin kopfschüttelnd. „Puhihi“, machte das Wolkenschaf und schüttelte sich heftig. Strubbelrute war so verwirrt, dass er sich einfach auf seine Hinterpfoten plumpsen ließ.

 

„Hey, kannst du nicht aufpassen?“ mahnte da plötzlich eine Stimme von unten. Strubbelrute, der sich gerade auf seine Hinterbeine gesetzt hatte, sprang überrascht auf und ließ seinen Blick suchend über den Boden gleiten. Dort, direkt vor seinen Pfoten, entdeckte der kleine Fuchs eine Kolonne von Bienen, die in einer langen Reihe hintereinander über den Waldboden marschierte.
„Warum fliegt ihr denn nicht?“ fragte Strubbelrute verwundert. „Fliegen? Viel zu gefährlich“, lautetet die knappe Antwort der Anführerin. „Los, los, schnell, wir müssen weiter“, rief sie den anderen Bienen zu. 15…20…25 – immer mehr Bienen tauchten hinter einem großen, herzförmigen Blatt auf, schauten kurz zur Anführerin, die ihnen aufmunternd zuwinkte und rannten dann mit schnellen Tippelschrittchen hintereinander über den weichen Boden, bis sie auf der anderen Seite hinter einem rosafarbenen Pilz verschwanden. Als auch die letzte Biene sicher auf die andere Seite gekommen war, wischte sich die Anführerin erleichtert über die Stirn: „Geschafft. Aber der Auftrag ist noch nicht beendet.“
„Warum fliegt ihr denn nicht?“ fragte Strubbelrute erneut, der neugierig das Schauspiel beobachtet hatte. „Hab ich doch gesagt. Viel zu gefährlich.“ Die Anführerin verbeugte sich kurz, schaute sich dann prüfend um und lief eilig den anderen Bienen hinterher.
„Laufende Bienen“ murmelte der kleine Fuchs kopfschüttelnd und setzte sich erneut auf seine Hinterpfoten. „Hey, kannst du nicht aufpassen?“ Erschrocken sprang Strubbelrute auf und blickte sich um. Hatte er schon wieder jemanden übersehen? „Hihihi“, kicherte Marvin da und musste die Wiese auf seinem Kopf festhalten, damit sie beim Lachen nicht herunterfiel, „Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen, hihi.“ – „Wald- und Wiesenoktopusse sind also auch sehr, sehr schadenfroh und hinterhältig“, stellte Strubbelrute fest, „kein Wunder, dass ihr euch tarnen müsst. Aber vielleicht kannst du mir trotzdem erklären, warum die Bienen nicht fliegen, wo ihr doch angeblich auch sehr, sehr schlau seid.“
„Jaaa“, antwortete Marvin gedehnt, als er sich wieder beruhigt hatte, „das ist doch ganz einfach: Die Bienen haben Angst vor dem Fliegen.“ - „Angst ... vor dem Fliegen?“ hauchte Strubbelrute verständnislos. „Ja ja, aber das ist doch auch ganz logisch“, nickte Marvin und machte ein ernstes Gesicht, „Was würdest du denn machen, wenn, du immerzu von den Fliegenden Fischen gejagt wirst? Die machen sich einen Spaß daraus, die armen Bienen zu erschrecken.“ - „Uff“ stöhnte der kleine Fuchs und legte sich eine Pfote über die Augen, „Fliegende Fische, die Bienen jagen.“ Strubbelrute versuchte sich vorzustellen, wie ein Fliegender Fisch aussehen sollte, doch es gelang ihm einfach nicht.