Meister der Tarnung

„Gnihihi, hier findet mich Strubbelrute nie“, freute sich Marvin, denn der kleine Wald- und Wiesenoktopus hatte sich heute eine ganz besondere Tarnung ausgedacht. Um jeden seiner acht Arme hatte er sich ein enges Geflecht aus Zweigen und Blättern geschlungen. Auf dem Kopf, der in dem Dickicht kaum noch zu erkennen war, trug er außerdem eine kunstvoll geflochtene Krone aus Ästen und Blättern, in die er sogar ein Vogelnest gesetzt hatte.
„Ich sehe aus wie ein Strauch, gnihihi“, kicherte Marvin vor sich hin, doch dann stutzte er.
Der Waldboden unter ihm begann plötzlich zu zittern, erst ganz leicht, doch dann immer stärker. Marvin vernahm ganz in seiner Nähe ein seltsames Geräusch, das immer näher zu kommen schien – und im nächsten Moment wurde der Wald-und Wiesenoktopus von einem kräftigen Stoß unsanft auf den Boden geworfen. „Hilfää“, schrie er panisch und ruderte verzweifelt mit den Armen.

„'tschuldigung, tut mir leid“, erklang eine tiefe Stimme nur wenige Schritte von Marvin entfernt, „aber ich hab gedacht, du bist ein Strauch.“
Der Wald- und Wiesenoktopus rappelte sich mühsam wieder auf. Vor ihm stand keuchend und mit nassem, zerzaustem Fell eine große, braune Bärendame, die sich ängstlich umschaute. Marvins Kopf begann vor Freude zu glühen – die Bärin hatte ihn nicht erkannt, seine Tarnung musste also wirklich sehr, sehr gut gewesen sein.
„Schon gut, schon gut“, entgegnete er deshalb selbstgefällig, „du konntest mich gar nicht entdecken. Wir Wald- und Wiesenoktopusse sind schließlich Meister der Tarnung.“
„Meister der Tarnung?“ fragte die Bärendame neugierig, was Marvin mit einem stolzen Nicken beantwortete. Erneut blickte die Bärin ängstlich in die Richtung, aus der sie gekommen war: „Vielleicht…“ sagte sie schließlich zögernd, „vielleicht kannst du mir dann ja helfen.“
Marvin musste nicht lange überlegen. „Na klar helfe ich dir. Wir Wald- und Wiesenoktopusse sind nämlich nicht nur sehr, sehr schlau sondern auch sehr, sehr hilfsbereit, weißt du? Aber wobei soll ich dir denn eigentlich helfen? Und wer bist du überhaupt?“

Die Bärendame stampfte unruhig von einem Bein auf das andere. „Ich heiße Ursa und bin – nun ja – manchmal etwas tollpatschig. Nicht weit von hier gibt es einen See, in dem ich sehr gern baden gehe. Meistens nehme ich Anlauf und springe dann mit einem weiten Satz mitten hinein in das kühle Wasser. Vorhin jedoch bin ich leider ausgerutscht…“, Ursa machte eine kurze Pause, „…und auf dem Bau der Wasserameisen gelandet. Der ist jetzt kaputt. Und die Wasserameisen sind so wütend, dass sie mich verfolgen.“
Marvin blickte die Bärendame mit großen Augen an: „Aber du bist doch viel größer, als die Ameisen?“
„Ja, das schon“, brummte Ursa ungeduldig, „aber die Ameisen sind viele und die können wirklich ganz schön gemein sein.“
Der Wald- und Wiesenoktopus nickte verständnisvoll: „Keine Sorge, ich werde dir helfen. Ich zeige dir, wie du dich so gut tarnen kannst, dass dich die Ameisen ganz, ganz sicher nicht finden werden.“
„Das würdest du tun?“
„Klar, Wald- und Wiesenoktopus-Ehrenwort!“

Einige Zeit später stand Marvin mit verschränkten Armen auf einer Lichtung und beobachtete kopfschüttelnd und zunehmend lustlos seine neue Schülerin. Es war hoffnungslos. Ursa war nicht nur sehr groß, sondern auch in hohem Maße tollpatschig und ungeschickt. Selbst die einfachsten Grundlagen des Tarnens funktionierten nicht. Als Ursa sich hinter einem Baum verstecken sollte, schaute ihr Hinterteil hervor, beim Schleichen trat sie auf einen Ast, der mit lautem Knacken zerbrach und als sie sich als Wiese getarnt hatte musste sie so laut lachen, dass die ganze Verkleidung herunterfiel. Wie sollte ihr Marvin die hohe Kunst der Tarnung beibringen, wenn selbst diese einfachsten Dinge nicht funktionierten? Aber er hatte ihr sein Ehrenwort gegeben, dass er ihr helfen würde, also würde er es weiterhin versuchen. Plötzlich hörte er in einiger Entfernung ein leises Kichern. Als er sich umschaute, entdeckte er Fuchs Strubbelrute, der auf ihn zu geschlendert kam und belustigt das Treiben beobachtete.
„Toll“, dachte Marvin, „der hat mir gerade noch gefehlt.“

„Was macht ihr denn hier?“ fragte Strubbelrute neugierig, als er Marvin erreicht hatte. „Geht dich nix an!“ - „Sieht so aus, als ob sich der Bär tarnen möchte“, fuhr der ¬kleine Fuchs fort, „bist du sein Lehrer?“ - „Geht dich auch nix an!“ - „Aber du scheinst kein besonders guter Lehrer zu sein…“ - „WAS KANN ICH DENN DAFÜR, WENN BÄRA SO GROß UND SCHWER UND UNGESCHICKT IST UND ÜBERHAUPT KEIN TALENT ZUM VERSTECKEN HAT?!“, brüllte Marvin jetzt wütend und warf drohend die Arme in die Luft.
„Ungeschickt? Und kein Talent?“ erklang jetzt die traurige Stimme von Bära, „das heißt ich…ich...“ Sie begann zu schluchzen.
„Mach dir nichts draus“, versuchte Strubbelrute sie zu trösten, „es kann nicht jeder ein Meister der Tarnung sein, so wie Marvin hier. Aber warum willst du dich denn überhaupt verstecken?“
Mit Tränen in den Augen erzählte ihm Bära von ihrem Missgeschick. Der kleine Fuchs hörte aufmerksam zu. „Hmm, hmm“, überlegte er schließlich, „das ist wirklich ein Problem, aber vielleicht habe ich eine Idee." - „Die will aber keiner hören“, maulte Marvin verdrossen.
„Ich schon“, widersprach ihm die Bärendame, „los, erzähle!“ „Naja, du bist groß und stark, vielleicht kannst du den Wasserameisen einfach dabei helfen, einen neuen Bau zu errichten?“
Bära riss überrascht den Mund auf: „Das… das ist … wirklich eine gute Idee. Haha, ja, das mache ich, dann kann ich meinen Fehler gut machen und die Wasserameisen sind nicht mehr sauer auf mich!“ Vergnügt sprang die Bärin über die Wiese. Auch Strubbelrute lachte fröhlich: „Schön, dass dir die Idee gefällt. Und wir werden natürlich auch helfen, stimmt’s Marvin?“
Keine Antwort, doch da, wo vor wenigen Augenblicken noch der Wald- und Wiesenoktopus gestanden hatte, stand plötzlich ein kleiner Strauch.

 

Illustration Doreen Brandt alias Beareen; Text Leon Alexander Schmidt