Der traurige Emil

 

Fuchs Strubbelrute hockte auf einem runden, ockerfarbenen Stein und beobachtete Marvin, der einige Schritte von ihm entfernt an einem kleinen Tümpel stand. Der Wald- und Wiesenoktopus versuchte schon seit einiger Zeit verzweifelt, sich selbst in der glatten Oberfläche des Wassers zu betrachten. Doch immer, wenn er sich nach vorn beugte, verrutschte das Stückchen Wiese, das er auf seinem Kopf trug und drohte, ins Wasser zu plumpsen. Jedes Mal zuckte Marvin panisch zurück, schob behutsam die Wiese wieder an die richtige Stelle und beugte sich beim nächsten Versuch noch ein wenig langsamer nach vorn, als ohnehin schon. Inzwischen bewegt er sich so langsam, dass Strubbelrute Probleme hatte, überhaupt noch eine Bewegung zu erkennen. Doch plötzlich – Marvin hatte sich schon so weit nach vorn gelehnt, dass er geradeso das Spiegelbild seiner Augen im Wasser erkennen konnte – glitt die Wiese wieder nach unten. Der Wald- und Wiesenoktopus schreckte zurück, wodurch ihm die Wiese bis vor die Augen rutschte und er ruderte hilflos mit 6 seiner Arme durch die Luft. „Hilfe, ich sehe nichts mehr, Hilfe!" schrie er panisch.
Strubbelrute hielt es jetzt nicht mehr auf seinem Stein. Lauthals lachend kullerte sich der kleine Fuchs über den Boden und hielt sich kichernd den Bauch. „Wirklich ein toller Freund bist du“, meckerte Marvin und schob sich die Wiese aus seinem Gesicht, „lachst mich aus, anstatt mir zu helfen.“ – „Tut, tut mir leid“, gluckste Strubbelrute fröhlich, „aber es ist einfach…“ – „Was kann ich denn dafür, wenn die blöde Wiese immer runter rutscht?“ unterbrach ihn Marvin beleidigt. „Nichts“, entgegnete Strubbelrute und beruhigte sich langsam, „aber warum hältst du denn die Wiese nicht einfach fest? Wozu hast du denn sonst 8 Arme?“ Marvin starrte ihn einen langen Augenblick mit offenem Mund an, dann drehte er sich beschämt um. „Blöder Fuchs“, grummelte er, während er sich erneut über das Wasser beugte und dabei die Wiese mit zwei Armen fest auf den Kopf presste, „da wäre ich auch alleine drauf gekommen.“
Doch gerade als Marvin sein Spiegelbild in der klaren Oberfläche des Tümpels betrachtete, platschte direkt vor ihm etwas ins Wasser.

„Was war das denn?“ wunderte sich Marvin und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Strubbelrute trat hinzu und betrachtete neugierig die Ringe, die anmutig über die Wasseroberfläche tanzten und dabei immer größer wurden, bis sie schließlich im Ufer verschwanden. Im nächsten Augenblick platschte noch etwas ins Wasser – und da – schon wieder. Strubbelrute wollte gerade erschrocken zurückweichen, als ein großer, dicker Wassertropfen genau auf seiner Schnauze landete. „Brrr“, machte der kleine Fuchs und schüttelte sich. „Uh, wo kommt der denn her?“ wunderte sich Marvin, „es regnet doch gar nicht.“ Gleichzeitig reckten die beiden die Köpfe nach oben und schauten in den strahlend blauen Himmel, in dem nirgendwo ein Wölkchen zu sehen war. Doch schon im nächsten Moment – platsch – landete ein Wassertropfen direkt auf Marvins Stirn. „Ah“, schrie er aufgeregt, „unsichtbarer Regen. Los, wir müssen uns verstecken!“ Und schnell – was man bei einem Wald- und Wiesenoktopus eben als schnell bezeichnen kann – huschte er unter einen Baum. Strubbelrute jedoch blieb sitzen. Er hatte noch nie etwas von unsichtbarem Regen gehört und glaubte auch nicht, dass es so etwas wirklich gab. Und außerdem war vor Kurzem ein seltsamer Geruch in seine Nase gedrungen, ein Geruch, den der kleine Fuchs schon einmal irgendwo geschnuppert hatte. Angestrengt schnüffelte Strubbelrute in alle Richtungen, doch dann gab es keinen Zweifel mehr: der Duft kam von oben, irgendwo von einem der umstehenden Sternblatt-Bäume. Strubbelrute kniff die Augen zusammen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden und schaute sich um. Und tatsächlich – dort, ganz oben in der Spitze des höchsten Baumes, versteckt zwischen Ästen und Blättern entdeckte er etwas seltsames, etwas bläulich schimmerndes, etwas, das sich bewegte.

„Halloooo, du da oben!“ rief Strubbelrute so laut es ihm möglich war, damit ihn das fremde Wesen, das sich hoch oben in der Spitze des Baumes versteckte, auch hören könnte. „Hier ist niiihieemand“, erklang es mit zittriger Stimme zurück. Der kleine Fuchs legte verwundert und überrascht die Ohren an: „Und wer hat mir da gerade geantwortet?“ – „Der Wind, schnief, das war nur der Wind.“ Strubbelrute stutzte. Nicht wegen der Antwort, ihm war natürlich klar, dass es nicht der Wind war, der mit gesprochen hatte, aber hatte das Wesen gerade geschnieft?
Der kleine Fuchs spitzte die Ohren und lauschte. Ja, da war es wieder, ein leises, kaum wahrzunehmendes Wimmern, das eindeutig auch aus der Spitze des Baumes kam. Besorgt richtete sich Strubbelrute auf, um besser sehen zu können, doch die Äste und Blätter versperrten ihm die Sicht. „Keine Angst, ich tue dir nichts“, rief er schließlich, „aber vielleicht kann ich dir helfen.“ Einige Zeit geschah nichts, doch dann schob sich langsam und vorsichtig eine schmale Schnauze zwischen dem Geäst hervor. Die Augen und der Rest des Kopfes blieben jedoch verborgen. „Der Wind braucht keine Hilfe“, sagte das fremde Wesen, doch es klang nicht sehr überzeugend. „Der Wind nicht, aber ein kleines Wolkenschaf vielleicht schon“, antwortete Strubbelrute freundlich. „Ich bin nicht klein“, entgegnete die Stimme jetzt zornig und im nächsten Moment erschienen auch die schwarzen Kulleraugen und schließlich die schmalen Ohren, die aufgeregt hin und her wackelten. „Da bist du ja endlich“, freute sich der kleine Fuchs und drehte sich zweimal im Kreis, „Ich bin Strubbelrute und dort drüben, hinter dem Baum, hockt Marvin, der alte Angst-Oktopus. Und wer bist du?“ – „Ich bin Emil“, antwortet das Wolkenschaf zögernd, „und… und…“ Emil sprach nicht weiter, sondern sprang einfach mutig in die Luft. Strubbelrute hielt sich vor Schreck eine Pfote vor die Augen.

Erleichtert beobachtete Strubbelrute, dass Emil nicht auf den Boden geplumst war, sondern von Baum zu Baum sprang, um zu ihm auf den Boden zu gelangen. Da das kleine Wolkenschaf aber nicht so sprang, wie ein Fuchs, sondern nach jedem Sprung langsam durch die Luft schwebte, dauerte es eine ganze Weile bis es endlich vor Strubbelrute stand. Die dünnen Beinchen zitterten und auch der Körper, der blau und gelb schimmerte, bebte vor Anstrengung. „Was willst du denn hier?“ fragte Marvin, der mürrisch hinter seinem Baum hervor schielte. „Emil ist hier, weil wir ihm helfen wollen“, antwortete Strubbelrute rasch. „Ich will niemandem helfen“, maulte Marvin, „mir hilft ja auch niemand.“ – „Das liegt vielleicht daran, dass ihr Wald- und Wiesenoktopusse sehr, sehr unfreundlich seid.“ Dann wendete sich der kleine Fuchs wieder Emil zu, der mit hängenden Ohren und immer noch zitternd neben ihm stand. „Jetzt erzähl mal, Emil, was ist denn eigentlich los?“ – „Ach, es ist nichts Schlimmes, ich bin einfach nur sehr, sehr“, ein Schluchzen unterbrach seine Worte, „sehr traurig, buhuu. Ich bringe immer nuhuuur den Regen, aber ich möchte sooho gern auch einmal schneien. Einmal, nuhuuur, schluchz, möchte ich die wunderbaren, glitzernden Schneekristalle bringen, aber ich schaffe es nihihicht.“ Mitfühlend betrachtete Strubbelrute das Wolkenschaf, das bei jedem Schluchzen unzählige Wassertropfen verlor. „Und warum schaffst du es nicht?“ fragte er schließlich. „Weil ich noch zuhu kleiheiiin bin“, jammerte Emil, „Um zu schneien müssen wir Wolkenschafe, buhu, ganz, ganz hoch in den Himmel steigen, aber ich, schnief, aber ich, buhuuuu.“ Strubbelrute nickte verständnisvoll. „Keine Sorge, Emil, wir werden dir helfen“, sagte der kleine Fuchs schließlich entschlossen. „Wir..wirklich?“ fragte das Wolkenschäfchen und für einen kurzen Moment leuchteten seine Augen. „Ja“, antwortet Strubbelrute bestimmt, auch wenn er noch keine Idee hatte, wie er das anstellen sollte.

Zusammengerollt lag Strubbelrute auf einem weichen Farnteppich und dachte nach. Noch immer wusste er nicht, wie er Emil helfen konnte, aber er würde schon noch eine Lösung finden, da war sich der kleine Fuchs ganz sicher. Das Wolkenschaf hatte sich wieder in der Spitze des riesigen Baumes versteckt, wo es leise vor sich hin schluchzte.
Marvin war ihm keine große Hilfe. Der Wald- und Wiesenoktopus stand am Ufer des kleinen Tümpels und betrachtete ausgiebig sein Spiegelbild. Es schien ihm zu gefallen, denn er drehte sich hin und her und gab seltsame grunzende Geräusche von sich. „Vielleicht willst du auch mal mit überlegen“, rief Strubbelrute verärgert, „ich denke ihr Wald- und Wiesenoktopusse seid sehr sehr schlau.“ – „Keine Zeit“, gab Marvin zurück, „muss Tarnung überprüfen.“ Strubbelrute schüttelt verständnislos den Kopf. Er verstand noch immer nicht, aus welchem Grund sich ein so kleiner Oktopus wie Marvin überhaupt tarnte. Bei den großen Wald- und Wiesenoktopussen war das ja noch verständlich, aber bei Marvin?
Strubbelrute zuckte zusammen. Aber natürlich, das war die Lösung! Der kleine Fuchs schämte sich ein bisschen, dass er nicht schon früher daran gedacht hatte. „Emil, bald wirst du schneien!“ rief Strubbelrute und sprang auf. „Wirklich?“ erklang zweifelnd die Stimme des Wolkenschafes aus dem dichten Blattwerk. „Ja“, antwortete Strubbelrute voller Zuversicht, „und Marvin wird uns dabei helfen!“

Erwartungsvoll blickte Emil zu Strubbelrute, der ungeduldig im Kreis tänzelte: „Marvin, kommst du jetzt endlich?“ – „Keine Lust“, antwortete der Wald- und Wiesenoktopus knapp und verschränkte vier seiner Arme vor der Brust, „viel zu weit, viel zu anstrengend und… und… keine Lust. Ich bleibe hier.“ Strubbelrute wischte sich verärgert mit der Pfote über die Schnauze. Er war wütend auf Marvin und wollte ihm gehörig die Meinung sagen – aber dann hatte er eine bessere Idee. „Du hattest doch Recht, Emil“, sagte der kleine Fuchs zum Wolkenschaf, „Wald- und Wiesenoktopusse sind wirklich sehr, sehr faul. Und feige sind sie auch. Aber das macht nichts, wir schaffen das auch alleine. Marvin wäre uns sowieso keine Hilfe.“ – „Stimmt gar nicht“, rief Marvin, der alles gehört hatte, „wir Wald- und Wiesenoktopusse sind sehr, sehr mutig und sehr, sehr stark und…“ – „Sehr, sehr hilfsbereit?“ fragte Strubbelrute. „Ja genau, das sind wir auch und noch viel mehr und…“ – „Hilfsbereit reicht mir schon“, grinste der kleine Fuchs, „dann können wir ja jetzt endlich aufbrechen, oder?“ – „Äh“, Marvins Gesicht färbte sich rot, als er merkte, dass Strubbelrute ihn überlistet hatte. Aber nun blieb ihm keine Wahl mehr, außer dem Fuchs und dem Wolkenschaf zu folgen, die sich schon umgedreht hatten und vergnügt durch den Wald streiften. Schlecht gelaunt trottete Marvin hinterher.
Doch schon nach kurzer Zeit verbesserte sich seine Laune wieder. Marvin wusste, dass Strubbelrute unbedingt seine Hilfe brauchte, das hatte er vorhin selbst zugegeben. „War ja klar“, kicherte er vor sich hin, „ohne mich ist Strubbelrute aufgeschmissen. Bestimmt muss ich irgendein ganz schwieriges Rätsel lösen. Wie gut, dass wir Wald- und Wiesenoktopusse so fürchterlich schlau sind, gnihi.“ Trotzdem fragte sich Marvin, was Strubbelrute denn eigentlich vorhatte.

Einen Tag und eine Nacht später erreichten die drei Reisenden den Fuß eines bewaldeten Berges, der hoch über die umstehende Landschaft hinausragte. „Jetzt ist deine große Stunde gekommen, Marvin“, sagte Strubbelrute geheimnisvoll und schaute gespannt auf den Berg. „Hier?“ fragte Marvin enttäuscht, denn er konnte nichts entdecken, wofür man einen sehr sehr schlauen, starken und mutigen Kerl wie ihn brauchen konnte, „ aber wieso denn ausgerechnet hier?“ – „Ist der Berg vor uns etwa kein Wald- und Wiesenoktopus?“ erkundigte sich Strubbelrute aufgeregt und spürte plötzlich wieder das Kribbeln in seiner Schwanzspitze. „Doch, schon“, entgegnete Marvin, „das ist mein Großcousin Vincent. Aber der ist ehrlichgesagt ne ziemlich trübe Tasse.“ – „Aber schön groß ist er.“ – „Jaaa, na und? Der darf sich ja auch den ganzen Tag ausruhen und wachsen und muss nicht so wie ich ständig durch den Wald hetzen.“ Beleidigt verschränkte Marvin wieder vier Arme vor der Brust und warf Strubbelrute einen bösen Blick zu. Der kleine Fuchs seufzte, dann sagte er: „Ich bin froh, dass du noch nicht so groß bist, sonst würdest du mich gar nicht mehr sehen. Und das wäre wirklich sehr sehr schade. Und jetzt bitte Vincent, dass er einen seiner Arme hoch hinaus in den Himmel streckt.“ Marvin stutzte kurz, doch dann legte sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht: „Ja, eine gute Idee, die wir da hatten, eine wirklich sehr gute Idee.“ Im nächsten Moment drehte er sich zum Berg um und ließ einige merkwürdige Pfiffe erklingen. Es dauerte sehr lange, bis etwas geschah, doch dann bebte plötzlich die Erde und der riesige Wald- und Wiesenoktopus wühlte einen seiner Arme aus dem Erdreich. Der Arm war so breit, dass mehrere Bäume nebeneinader Platz darauf fanden und so lang, dass Strubbelrute sicherlich einen halben Tag brauchen würde, um von einem Ende zum anderen zu laufen.
„Emil, jetzt kannst du ganz hoch in den Himmel laufen“, sagte der kleine Fuchs zum Wolkenschaf, das ungläubig neben ihm stand. „Ja, das mache ich, das mache ich gleich und dann kann ich endlich, dann kann ich…schneien.“ Emil hüpfte vor Freude doch schon im nächsten Moment rannte er den ausgestreckten Arm entlang Richtung Himmel. Strubbelrute sah ihm lächelnd hinterher, dann rollte sich der kleine Fuchs zufrieden auf einem weichen Moosteppich zusammen und schloss erschöpft die Augen.
Als er einige Zeit später wieder erwachte, sah er, dass auf seiner Schnauze ein wunderschöner Schneekristall funkelte.